Adventstürchen 9.12.2021

Herr Schulze und ich

Mit der Liebe hatte ich abgeschlossen, als ich Herrn Schulze traf. Bis zu diesem Tag hatte ich eine feste Vorstellung davon, was Liebe eigentlich war. Sie war für mich der Inbegriff romantischer Gefühle, Kitsch und Schmachterei – so ziemlich alles, was man eben in Hollywood-Filmen so sieht. Aber komischerweise hatte diese unerschütterliche Überzeugung davon, was Liebe war, nur dazu geführt, dass ich sie nie gefunden hatte.
Und dann war da Herr Schulze. Obwohl es nur eine Fotografie war, schienen seine großen, braunen Augen direkt in mein Herz zu blicken. Die Falten, die sein Gesicht so knautschig und charaktervoll aussehen ließen, musste man einfach lieben. Er gehörte zum älteren Semester, wirkte aber im Herzen junggeblieben. Herr Schulze suchte ein neues Zuhause – so stand es neben dem Foto. Wenn er bis Weihnachten keines finden würde, gäbe es nur noch eine Lösung: das Heim. Schrecklich! Ich musste etwas unternehmen. Kurzerhand wählte ich die Nummer unter der Annonce. Zwei Tage später zog Herr Schulze bei mir ein.
Eigentlich hatte ich nie viel für Hunde übrig – ebenso wenig, wie für das Singleleben. Kaum zu glauben, dass erst Herr Schulze kommen musste, um mir zu zeigen, dass ich mich in beiden Dingen geirrt hatte. Warum jemand seine englische Bulldoge »Herr Schulze« nennt, habe ich nie herausgefunden. Aber der kleine Hundesenior mit dem urigen Namen hat einer verbitterten Fastvierzigerin beigebracht, dass es viele Arten von Liebe und Zweisamkeit gibt und dass Gassigänge bei Sonnenuntergang mindestens genauso romantisch sind wie Hollywood-Kitsch.

Kurzgeschichte von Nicole